Warum Krankenhäuser und Praxen ihr Versorgungsmodell dringend hinterfragen müssen
Micaela Seemann Monteiro
Organisationen tun sich oft schwer, sich an neue Bedürfnisse und Realitäten anzupassen. Wer aber nicht in der Lage ist, sich immer wieder neu zu erfinden – und das bedeutet heute, sich mit Hilfe digitaler Technologien neu aufzustellen – hat schlechte Chancen, die nächsten 20 Jahre zu überleben. Im Jahr 2020 betrug die durchschnittliche Lebensdauer eines Unternehmens im Standard & Poor’s 500 Index ca. 21 Jahre – im Jahr 1965 waren es noch 32 Jahre. Angesichts dieser Entwicklungen ist es erstaunlich, dass Krankenhäuser und Praxen zwar ineffiziente Prozesse kritisieren und sich um ihre wirtschaftliche Zukunft sorgen, selten
aber das Versorgungsmodell an sich hinterfragen.
Digitalisierung ≠ digitale Transformation
Darüber, dass in Zukunft Medizin massgeblich datengesteuert und digital geprägt sein wird, herrscht weitgehend Einigkeit. Dies bestätigt eine unter klinischen Leiter:innen und anderen Führungskraeften in Gesundheitsorganisationen weltweit geführten Umfrage des NEJM Catalyst 2019: Hier gaben 66 Prozent der befragten Expert:innen an, dass Künstliche Intelligenz (KI) die Gesundheitsversorgung schon in den nächsten zwei Jahren
klar beeinflussen werde. Zumeist wird bei diesem Thema jedoch nur an bildgebende Diagnostik oder an die Entwicklung neuer Therapien gedacht – das heisst an Innovationen,
die in der Vergangenheit kaum eine wirkliche Transformation des klassischen Versorgungsmodells ausgelöst haben.
Und diese Denke zieht sich durch. Zum Beispiel auch auf Patientenseite: Patient:innen können digital Termine oder auch eine Videosprechstunde mit ihrem Arzt oder ihrer Aerztin als zusaetzlichen Kommunikationskanal buchen. Sie können E-Rezepte einlösen, Laborresultate in ihrer Gesundheitsapp einsehen oder die Anzahl von Schritten, Blutdruckwerten und andere biometrische Daten mit Arzt oder Aerztin teilen. All das und vieles mehr existiert mancherorts bereits seit Jahren; zum Beispielim portugiesischen Gesundheitssystem. Ich selbst habe als damalige Direktorin des Nationalen Zentrums
für Telehealth an der Digital Health Agency (SPMS) des Gesundheitsministeriums mitgewirkt. Aber hat dies prinzipiell etwas am Versorgungsmodell gaendert? Nein!
Dabei ermöglicht KI prinzipiell heute schon die Teilautomatisierung
medizinischer Tätigkeiten. Ein Beispiel ist der Einsatz sogenannter (KI-unterstützter) Symptom Checker, mit deren Hilfe Patient:innen in die Lage versetzt werden, ihre Symptome autonom zu managen oder sich in komplexeren Fällen ärztlichen Rat einzuholen.
Demographische Entwicklung kills klassischesVersorgungsmodell
Die Weltbevoelkerung altert. Standen in Deutschland 2001 noch vier Menschen im erwerbsfähigen Alter einem Menschen von 65 Jahren und älter gegenüber, warenes 2020 nur noch 2,9 Menschen. Hinzu kommen die steigende Lebenserwartung und damit die steigende Anzahl chronisch kranker Menschen. Das ist teuer. Für die Schweiz weiss man zum Beispiel, dass 80 % der Gesundheitskosten auf chronische Erkrankungen entfallen. Es ist damit klar: Unsere westlichen Gesundheitssysteme und ihr Versorgungsmodell in der heutigen Form sind nicht zukunftsfaehig. Es braucht ein konsequentes Umdenken.
Chronische Erkrankungen koennen tatsächlich verhindert
oder ihr Eintritt zumindest deutlich verzögert werden, wenn sie vorausschauend behandelt werden. Sind sie einmal eingetreten, kommen sie selten allein und müssen kontinuierlich und interdisziplinär begleitet werden. Nur so werden optimale Verläufe erzielt.
Unser heutiges Modell funktioniert jedoch vollkommen kontraer: Heute ist die Versorgung in erster Linie immer noch reaktiv, krankheitsorientiert und episodisch. Wie vor hundert Jahren. Sie ist fragmentiert und damit kaum patientenzentriert. Hohe Versorger-Patienten-Ratios limitieren darüber hinaus die Skalierbarkeit.
Wollen wir die demographische Entwicklung und die damit einhergehenden enormen Herausforderungen für das Gesundheitssystem nachhaltig managebar machen, brauchen wir einen neuen, das heisst, einen auf Prävention, Individualisierbarkeit, Integration und Kontinuitaet ausgerichteten Versorgungsansatz. Und zwar einen, der dies für sehr viele Patient:innen parallel sicherstellt. Ein solcher Ansatz kann nur mit intelligenter Technologie
ermöglicht werden.
Fachkräfte werden weltweit immer knapper
Dabei sind es nicht nur das veränderte Krankheitsmusterund die ansteigende Anzahl an Patient:innen, die das bisherige Versorgungsmodell in die Knie zwingen werden.
Es ist auch der immer groesser werdende Mangel an ärztlichem, pflege- und medizintechnischem Personal. Zuwanderung aus dem Ausland ist dabei angesichts des
globalen Phänomens der Ueberalterung auch keine Loesung.
Clayton Christensen von der Harvard Business School schrieb in seinem Buch „The Innovator’s Prescription“: „Das Organisationsparadigma des allgemeinen Krankenhauses
entstand im Zeitalter der ‚intuitiven Medizin‘.“ Damit ist eine Zeit gemeint, in der Aerztinnen und Aerzte sich auf ihre Erfahrung verlassen mussten. Heute befinden wir uns aufgrund wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts bereits im Uebergang von evidenzbasierter Medizin zur personalisierten Medizin. Das Organisationsparadigma der Versorgung und das daraus resultierende Modell haben sich jedoch seit den Tagen
der „intuitiven Medizin“ nicht wesentlich weiterentwickelt. Denn schliesslich genügt es nicht, digitale Elemente in bestehende Prozesse einzubauen, um den neuen Herausforderungen gewachsen zu sein. Es braucht eine echte Transformation.
Digital native Gesundheitsversorgersind die wirklichen Transformatoren
Ali Parsa, Gründer und CEO des britischen Start-ups Babylon Health, ist einer von zahlreichen Akteuren, die das erkannt haben. Babylon erschafft Schritt für Schritt ein
eigenes Versorgungssystem. Es ist im Wesentlichen digital first, datengesteuert, automatisiert und auf Selbstbedienung seitens der Patient:innen ausgerichtet. Der Patient
– oder besser sein Digital Twin – steht im Zentrum des Systems. Aerztinnen und Aerzte konzentrieren sich auf diejenigen Tätigkeiten, bei denen sie heute noch unersetzlich
sind. Bereits 2021 konnte das 2013 gegründete Unternehmen an die Börse gehen.
Andere interessante Player sind digital native Gesundheitsdienstleister,die Teil eines offenen Oekosystems sind. Ein gutes Beispiel ist Sword Health. Das portugiesische
Telephysiotherapie-Start-up wurde 2015 gegründet. Im November 2021 wurde sein Wert bereits auf zwei Milliarden Dollar geschätzt. Sword ist aktuell der weltweit am schnellsten wachsende Anbieter virtueller Physiotherapie – insbesondere in den USA.
Als ich 2017 die Gründer von Sword kennenlernte, war das Unternehmen ein MedTech-Start-up, das eine digitale Plattform und zugehörige Sensoren anbot. Kundenzielgruppe
waren die klassischen Versorger, die damit in die Lage versetzt werden sollten, Physiotherapien geographisch auszuweiten und zu skalieren. Die Technologie konnte zwar in Krankenh.usern erfolgreich getestet werden, zahlen wollten diese dafür aber nicht.
Erst als Sword ihre eigenen Physiotherapeut:innen einstellte und damit selbst zum Versorger wurde, hob das Unternehmen ab. Ihre originäre Technologie, die smarte
Datennutzung sowie hochstandardisierte und teilautomatisierte Prozesse machen es unter anderem moeglich, dass ein Physiotherapeut simultan bis zu 200 Patient:innen
zu Hause betreut. Zu den Kund:innen von Sword zaehlen nun Versicherungen und Unternehmen. Aehnlich wie Sword entwickelten sich auch andere Start-ups, die als MedTech begannen, zu digitalen Versorgern weiter, weil sie als Technologieanbieter bei Krankenhäusern und Praxen keinen Erfolg hatten.
Warum tun sich so viele Krankenh.user und Praxen schwer, sich mit Hilfe digitaler Technologien neu aufzustellen, um Versorgung effizienter, patientenzentrierter, auf hohem Qualitaetsniveau konsistent, dabei skalierbar und letztendlich auch bezahlbar zu machen? Vielleicht, weil datengesteuerte, standardisierte, teilautomatisierte, Patient:innen ermaechtigende Versorgungsmodelle einen wirklichen Bruch mit dem Organisationsparadigma der „intuitiven Medizin“ erfordern. Eben echte Veränderung.
Smarte Optionen für Krankenhäuser und Praxen
Ein möglicher pragmatischer Schritt für Krankenhäuser wäre es, parallel zu ihrem Tagesgeschäft sukzessive neue, autonome digitale Versorgungsangebote im Sinne einer
integrierten Patient Journey anzubieten. Das koennen eigene Services oder die von digitalen Partnern sein.
So gewinnen sie Zeit für die eigene digitale Transformation, gestalten selbstbestimmt ihre Rolle und übernehmen für ihre Patient:innen die wichtige Funktioneines Lotsen.
Praxen wiederum werden eine Art Digital-Health-Broker benoetigen, der ihnen über eine Plattform Zugang zu fachspezifischen digitalen Versorgungsangeboten für ihre jeweiligen Patient:innen ermöglicht.
Wer verliert? Wer gewinnt?
Ob Krankenhäuser, Praxen oder digital native Gesundheitsdienstleiter – zu den Gewinnern werden jene zählen, die es schaffen, ihre Dienste und Daten in einem neuen, hybriden Gesundheitsökosystem der Zukunft intelligent aufeinander abzustimmen und zu vernetzen.
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